Mit allen Sinnen dabei

Im Sommer 1990 nahm eine wegweisende Einrichtung ihre Arbeit auf: Das Cochlear Implant Centrum (CIC) „Wilhelm Hirte“ begann, ertaubte oder taub geborene Kinder mit einem Cochlear Implant, einer implantierbaren Hörhilfe, gezielt zu behandeln. Nach einigen Jahren wurde das Einfamilienhaus in der Neuen Landstraße zu klein. Die Deutsche Cochlear Implant Gesellschaft (DCIG), der bundesweite Verband von Selbsthilfegruppen von CI-Trägern, erwarb mit Unterstützung der Wilhelm-Hirte-Stiftung das großzügige Gelände in Groß-Buchholz, nahe der Eilenriede. Auf dem Gelände befinden sich heute das Therapiegebäude und drei Kinderhäuser mit insgesamt 21 Eltern-Kind-Zimmern. Ein großer Spielplatz lädt zum Austoben und Erproben der motorischen Fähigkeiten, des Gleichgewichtes und der Koordination ein. Jede Woche können so 42 Kinder gemeinsam mit ihrer Mutter oder ihrem Vater an den meist zwei- bis dreitägigen Therapien teilnehmen.

Was für viele selbstverständlich ist, müssen diese Kinder erst lernen: Hören, denn dieses „Gefühl“, Stimmen, Geräusche oder gar Musik zu erleben, kennen die meisten von ihnen nicht. Für sie eröffnet sich eine ganz neue Welt, wenn sie das erste Mal ihre Mutter oder ihren Vater hören und schließlich verstehen, dass aus den sich bewegenden Lippen auch liebevolle Worte kommen können. Zuvor wurden die Kinder in der HNO-Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover mit der Innenohrprothese versorgt. In aller Regel beginnt dann die Arbeit der Therapeuten im CIC.

Wer nicht hören kann, kann sich meist auch nicht artikulieren. Neben dem Hören und Verstehen müssen die Kinder auch das Sprechen lernen. Der Ablauf der Therapie beschränkt sich nicht - auf einmalige Sitzungen. Eine Basisrehabilitation umfasst meist einen Zeitraum von zweieinhalb bis drei Jahren mit mehreren mehrtägigen Auf-enthalten im CIC. Schon vier bis fünf Tage nach der Operation erfolgt im CIC ein Vortraining des Kindes. Dabei wird es auf die erste Anpassung des Sprachprozessors etwa fünf bis sechs Wochen nach der Entlassung aus der Klinik vorbereitet. Gemeinsam mit der Mutter und dem Vater sieht es bei einer Anpassung zu und lernt die Mitarbeiter im CIC kennen. Die vielfältigen Therapieangebote entwickeln sowohl die Hör-Sprach-Entwicklung der CI-versorgten Kinder als auch die geistigen, emotionalen, motorischen und sozialen Fähigkeiten. Die Behandlung mit einem CI ist innerhalb der ersten drei Lebensjahre oder auch für Kinder mit Hörgeräten (zum Beispiel nach einem Hörsturz) sinnvoll.

Während zu Beginn ältere Kinder einseitig mit einem CI versorgt wurden, können heute bereits Kinder ab einem Alter von ca. sechs Monaten mit dieser hochwertigen Technik auf beiden Ohren hören und in der Folge auch sprechen lernen. Die sich weiter entwickeln-de Technik wie auch die frühe Versorgung ermöglichen Kindern, die keine weiteren Entwicklungsverzögerungen aufweisen, eine her-vorragende Sprachentwicklung, die auch für den Regelschulbesuch ausreichen kann. Beste Technik kann aber den gesunden Hörsinn nach derzeitigen Stand nur teilweise ersetzen, sodass diese Kinder auch unter besten Voraus-setzungen in akustisch komplexen Situationen (etwa bei Nebengeräuschen) weniger verstehen können und sich mehr anstrengen müssen als normal hörende Gleichaltrige.

Seit 1990 nahmen mehr als 1500 Kinder an den Therapien teil. Durch den hervorragenden Ruf des CIC als Vorreiter für die CI-Therapie kommen sie aus ganz Deutschland und dem Ausland, zum Beispiel aus der Ukraine oder von den Faröer-Inseln. Die Arbeit im CIC wurde immer weiter optimiert. Vor allem das Therapie-Team hat sich immer weiterentwickelt: Angefangen mit fünf Mitarbeitern um den damaligen Leiter, Dr. Bodo Bertram, sind heute 19 Mitarbeiter auf dem Gelände am Stadtwald Eilenriede beschäftigt. Ingenieure, Sprachbehindertenpädagoginnen, eine Atem-, Sprech- und Stimmlehrerin, Logopädinnen, eine Heilpädagogin sowie eine Ergotherapeutin kümmern sich um die verschiedenen Therapien der Kin-der. Unterstützung erhält das Team des CIC durch Mitarbeiterinnen im Sekretariat und in der Hauswirtschaft. Letztere sorgen für reibungslose Abläufe und ein Fast-wie-zu-Hause-Gefühl in den Eltern-Kind-Wohnhäusern. Seit 2009 leitet Dr. Barbara Eßer-Leyding das CIC „Wilhelm Hirte“.

Ergänzende Therapien sind seit vielen Jahren der Streichelzoo vom Verein für soziales Lernen mit Tieren und wechselnde Angebote aus den Bereichen Musik, Bewegung, Kreativität. Elternfortbildungen und Aktionstage für die ganze Familie zählen ebenfalls dazu.

Die Verschiebung der audiologischen Indikationsgrenzen hin zu mehr Restgehör und auch die Erfahrung, die notwendig ist, auch Kinder mit komplexem Förderbedarf erfolgreich mit Cochlea-Implantaten zu versorgen, hat die Zahl der zu rehabilitierenden Kinder über Jahre stetig ansteigen lassen.

Das CIC „Wilhelm Hirte“ bietet derzeit eine besondere Rehabilitationswoche für jugendliche CI-Träger an. Weitere Projekte sind geplant. Zunehmend werden auch Kinder mit CI versorgt, die auf dem Gegenohr besser hören und eine leichte oder gar keine Hörhilfe benötigen. 2013 wird der Patientenkreis auf spät ertaubte Erwachsene ausgeweitet. Während es im 19. Jahrhundert ein Novum war, den speziellen Bedürfnissen von Kindern gerecht zu werden, so wird es 150 Jahre später ein Novum sein, diese ursprünglich für Kinder gegründete Einrichtung nun auch für Erwachsene zu öffnen. Nicht zuletzt sind auch langjährige Patienten inzwischen erwachsen und nehmen einmal pro Jahr ihre Kontrolltermine im CIC wahr.